Thesenpapier statt Referat

Wenn das Thesenpapier an die Stelle eines Referates treten soll, dann bedeutet dies zweierlei:

  • Nicht ein Vortrag, sondern Diskussion soll den Seminarverlauf maßgeblich bestimmen. (In der Regel wird dies damit zusammenhängen, dass der thematisierte Inhalt weniger in gesicherten Erkenntnissen der Wissenschaft besteht als in Problemen, über die strittige wissenschaftliche Positionen existieren.)
  • Der Aufbau des Thesenpapiers soll eine Art Leitfaden für die Diskussion bieten.

Die Struktur solcher Thesenpapiere kann unterschiedlich aussehen:

Lineare Abfolge

Die lineare Abfolge:

These, Begründung der These –
2. These, Begründung dieser These usw.

Diese Form bietet sich an, wenn Sie im wesentlichen eine bestimmte wissenschaftliche Position – das kann auch Ihre eigene sein – in Thesenform vorzutragen und in der Diskussion zu begründen gedenken.

Sie sind durch die Thesenform in diesem Falle stark auf die referierte Position festgelegt und müssen praktisch als Sprecher eines anderen auftreten, auch wenn Sie dessen Position gar nicht teilen, müssen im letyteren Falle also eine Art „Advocatus diaboli“ spielen. Wenn Sie nicht Ihre eigene Position vertreten und sich auch nicht die referierte Position zu eigen machen, geraten Sie bei dieser Form in eine schwierige Lage, da Sie natürlich die fremde Position nicht so vertreten können, wie ihr Urheber es sicher könnte, andererseits sich aber auch nicht ohne Verlust von ihr distanzieren können, da aus einer Diskussion über Thesen, hinter denen niemand steht, schnell die Luft heraus ist.

Die Kontroverse

Abfolge:

These, Begründung der These –
Gegenthese, Begründung der Gegenthese

2. These, Begründung dieser These –
2. Gegenthese, Begründung usw.

In dieser Form lassen sich gut kontroverse in der Wissenschaft vertretene Positionen zum behandelten Thema darstellen. Durch die ausgewogene Darstellung mit Pro und Contra können Sie selbst distanziert bleiben, auch wenn Sie sich eine der Positionen zu eigen machen.

Allerdings besteht bei dieser Form auch die Gefahr eines Eindrucks von Beliebigkeit: „Man kann eben alles so oder so sehen.“ Wichtig ist daher, die Positionen auch wirklich gegeneinander zu stellen und nicht nur nebeneinander. Das heißt, die Argumente zu den Thesen beziehungsweise Antithesen müssen sich wirklich aufeinander beziehen und dürfen nicht aneinander vorbeizielen.

Dialektische Entwicklung

Abfolge:

These, Begründung der These –
Gegenthese, Begründung der Gegenthese

Synthese, Begründung der Synthese –

2. These, Begründung dieser These –
2. Gegenthese, Begründung 

erneute Synthese, Begründung usw.

Diese Form unterscheidet sich von den beiden anderen durch das Entwicklungsmoment. Während in der linearen Abfolge eine Position sozusagen einsam ihre Bahn zieht (erst durch die Diskussion kommt ein soziales Moment hinein), in der Kontroverse zwei Positionen einander starr gegenüberstehen (diese Starre wird wiederum erst durch die Diskussion gelöst), stellt diese Form des Thesenpapiers eine dialektische Entwicklung dar. These und Antithese kommen in Dialog, das heißt sie verharren nicht im Gegensatz, sondern gehen aufeinander ein. Im Idealfall kommen sie – aufgrund der gegeneinander vorgebrachten Argumente – zu einer gemeinsamen Position, der Synthese. Das bedeutet nicht einfach, dass sie ihre ursprüngliche Position verlassen haben. Sondern sie haben sich so modifiziert, dass sie miteinander vereinbar werden.

In einer solchen Bewegung kann man manchmal Entwicklungen in der Theorietradition nachzeichnen: Erst wurde von X die erste Position vertreten; dann von Y die Gegenposition; schließlich wurden beide Positionen aufgehoben in der Synthese, die Z geleistet hat. Vielleicht lassen sich auch zeitgenössische Positionen in dieser Weise darstellen, dass die Schule x gegen die Schule y theoretisch zu Felde zieht, während doch die Schule z gezeigt hat, dass ihr Gegensatz ganz überflüssig ist.

Oder Sie können Ihre eigene Position als Synthese zu einer bestimmten These-Antithese-Konfrontation darstellen. Das lässt eine Position immer stark aussehen. Ob sie es wirklich ist, hängt davon ab, ob sie eine wirkliche Synthese ist oder nur ein fauler Kompromiss, ein „mittlerer Weg“ oder dergleichen.

Kompromisse und „mittlere Wege“ zeichnen sich dadurch aus, dass sie Gegensätze aufheben, indem sie das, was den Gegensatz ausmacht oder begründet, einfach ausklammern beziehungsweise zwischen zwei Extremen die goldene Mitte wählen. Das mag der Alltagspragmatik durchaus entgegenkommen, die sich Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten ersparen will. Es dient aber absolut nicht dem Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis. Dafür dass die Wahrheit immer in der Mitte liegt, gibt es keinerlei Grund. Warum sollte sie?

Was also ist ein wirkliche Synthese?

Zunächst einmal muss der in These und Antithese formulierte Gegensatz ganz ernst genommen und darf nicht verwässert werden. Dann muss der tiefere Grund dieses Gegensatzes herausgestellt werden. Bei diesem Zurückgehen oder In-die-Tiefe-Gehen wird sich herausstellen, ob in letzter Instanz unvereinbare Grundpositionen vorliegen, die sich niemals vereinbaren lassen werden, oder ob es bestimmte Annahmen, Zwischenargumente und dergleichen sind, die aus in der Tiefe gleichen Grundpositionen Gegensätze werden lassen.

Jede Position, die das Entstehen der Gegensätzlichkeit erklären kann, steckt selbst nicht mehr in diesem Gegensatz, sondern wird zur übergreifenden Position, die beide Argumentationslinien in ihr eigenes Argumentationsgeflecht aufgenommen hat