Sich seine eigenen Gedanken machen

Grundlage allen wissenschaftlichen Arbeitens ist das eigene Denken.

„Sich seine eigenen Gedanken zu machen“, heißt zunächst einmal, nicht einfach die Gedanken anderer zu übernehmen und wiederzukäuen. Es heißt zum zweiten, diese Gedanken als „Eigenes“ zu betrachten und zu behandeln, also sich nicht zu ihnen wie zu einer Sache zu verhalten, derer man sich nach Belieben bemächtigen oder entledigen kann. Es heißt zum dritten, Gedanken aus eigener Kraft und eigenem Vermögen hervorzubringen und ihrer Bildung Aufmerksamkeit und Anstrengung zu widmen.

Das entspricht der berühmten Aufforderung des Philosophen Immanuel Kant, die er in seiner Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ im Jahre 1783 an seine Mitbürger richtete:

„Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

Kant zweifelte nicht an der Fähigkeit der Menschen, ihren Verstand zu gebrauchen; aber er zweifelte an ihrem Mut, durch eigenes Denken den Weg „aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit“ zu nehmen.
Und tatsächlich gehört ja Mut dazu; zu Kants Zeiten, weil die Obrigkeit keineswegs an mündigen Bürgern interessiert war.
Und heute, an der Universität, weil dies der Ort ist, an dem Sie es mit den Leistungen der größten Denker der Menschheitsgeschichte zu tun bekommen, sich mit den Veröffentlichungen der Spitzenforscher in Ihrem Fachgebiet auseinandersetzen sollen, und von Leuten belehrt und betreut werden, von denen Sie doch annehmen dürfen, dass sie auf Grund langjähriger Erfahrung als „wissenschaftliche Arbeiter/innen“ besser wissen als Sie, was zu denken sei.

Aber es hilft nichts: Man kann niemand Anderen im eigenen Kopf denken lassen; man muss es schon selbst tun. Denken ist eine produktive Tätigkeit: Sie übernehmen nicht einfach die Gedanken anderer, sondern verfertigen selbst Gedanken, bringen Gedanken hervor. Auch wenn Sie einen Text lesen und sich nicht lediglich zu merken versuchen, was darin steht, sondern die Gedanken- und Argumentationsführung nachzuvollziehen versuchen, verfertigen Sie im Nachvollzug die Gedanken erneut, denen Sie zu folgen versuchen. Sie re-konstruieren die Gedanken eines Anderen; aber immer kommt dabei etwas Neues heraus, das Ihre eigene Prägung aufweist.

Lesen Sie, was Norbert Franck, der selbst ein in etlichen Auflagen erschienenes Buch zum wissenschaftlichen Arbeiten verfasst hat, dazu geäußert hat:

Frage: Wissenschaftliches Arbeiten – nach Ihrer Definition ist das in erster Linie die Aufforderung, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Wird an deutschen Universitäten zu wenig gedacht? 

Franck: Ohne eigene Gedanken arbeitet man nicht wissenschaftlich, sondern wird allenfalls zum Knecht oder zur Magd dessen, was andere bereits gedacht oder geforscht haben. Selber denken ist auch das Patentrezept gegen Langeweile im Studium. Mein Eindruck ist, daß viele Studierende, die ein Thema zum Bearbeiten bekommen, keine Begeisterung dafür entwickeln, weil sie es nicht auf eigene Lebenssituationen, auf eigene Fragestellungen, auf aktuelle Auseinandersetzungen beziehen. Wenn das aber gelingt, kann Studieren eine spannende Sache sein. Doch dazu braucht man Neugier, den Impuls, selbst etwas rausfinden zu wollen.

Frage: Werden Studenten an der Universität dazu ermutigt?

Franck: Eher nein. Im Vordergrund steht das Erfüllen der Formalien, das Referieren von Autoritäten. Es gibt Fachbereiche, wo selbst den Doktoranden im Vortrag das „Ich“ verboten wird. Das verstärkt die Haltung, als hätte der Vortragende selbst mit Wissenschaft gar nichts zu tun, sondern sei nur ein Medium der Literatur. Man zieht sich auf gesichertes Wissen zurück, statt offene Fragen zu riskieren. Ich denke, daß man Wissenschaft in der ersten Person machen muß. Studierenden möchte ich noch mit auf den Weg geben: Nutzen Sie die Chance, die eine Universität bietet. Schauen Sie auch, was in anderen Fächern gemacht wird. Sie sollten begreifen, daß das Studium eine große Chance ist, seinen Horizont zu erweitern, sich persönlich weiterzuentwickeln. Wo kann man sonst lernen, ein Problem analytisch zu durchdringen, es aufzubereiten, es zu präsentieren? (Quelle: http://www.faz.net/s/hanz.html)

Wie aber steht es mit dem Objektivitätsanspruch der Wissenschaft? Es kann doch nicht einfach jeder drauflos denken, was ihm grad so einfällt, oder?