Üblicherweise werden Sie in Ihren wissenschaftlichen Arbeiten von fremden Gedanken ausgehen. Das kann ein Einstieg über eine Begriffsdefinition sein, die Sie in einem Lexikon gefunden haben; ein real- oder theoriegeschichtlicher Abriss zu Ihrem Thema; eine Problemexplikation, die Sie einer einschlägigen Abhandlung entnehmen, o.dgl. Die Frage ist, welchen Stellenwert ein solcher Einstieg für Ihre Arbeit haben kann und soll.
Es gibt drei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit ist, dass Sie sich die fremden Gedanken schlicht zu eigen machen und als Basis für alles Weitere verwenden. Sie schlüpfen sozusagen in die begriffliche bzw. wissenschaftliche Haut eines fremden Autors und argumentieren von da ab, als ob es Ihre eigenen Gedanken wären, die Sie entfalten. Das Problem ist, dass Sie dies meist nicht konsequent durchhalten können, weil Sie die fremden Gedanken zwar übernommen, aber nicht selbst hervorgebracht und daher auch nicht wirklich dagegen gefeit sind, Missverständnissen zu erliegen und in Ihren weiteren Überlegungen und Argumentationen fehlschlüssig zu werden. Das verschärfende Problem ist, dass Sie dies höchstwahrscheinlich selbst gar nicht merken. Das Internet wimmelt von Diplom- und sonstigen Hausarbeiten dieses Typs.
Die zweite Möglichkeit ist, dass Sie sich selbst ganz raushalten und lediglich referieren, was Sie in den Quellen gefunden haben; aber niemals so tun, als ob es Ihre eigenen Gedanken wären, sondern stets in Distanz bleiben. Der große Vorteil gegenüber der ersten Möglichkeit ist, dass Sie Ihre Referierung der fremden Gedanken immer mit dem Vorbehalt versehen können: … sofern Sie den Autor richtig verstanden haben; … soweit sich die Argumentation des Autors nachvollziehen lässt; … sofern die Annahmen des Autors zutreffen … usw. Dieser Weg, mit fremden Gedanken umzugehen, ist ganz sicher der wissenschaftlich sauberere gegenüber der distanzlosen Übernahme in der ersten Variante. Das Problem ist, dass Sie selbst dabei ganz außen vor bleiben. Ihre eigenen Gedanken manifestieren sich zwar in der Art der Referierung, ziehen sich dabei aber sozusagen permanent zurück hinter das Referierte. Es wird sich kaum vermeiden lassen, dass die Befassung mit den Gedanken anderer bei Ihnen eigene Gedanken auslöst, die sich auf das Gelesene beziehen. Aber die müssen Sie dauernd zurückdrängen, damit sie nicht die reine Darstellung der fremden Gedanken stören und überformen. Sofern Sie doch eigene Gedanken sichtbar machen wollen, stehen diese dann bezugslos different neben den fremden Gedanken.
Deshalb drängt das Motiv, sich seine eigenen Gedanken zu machen, zur dritten, allerdings anspruchsvolleren Möglichkeit: der Bezugnahme der eigenen auf die fremden Gedanken. Was bedeutet das?
Übernehmen Sie z.B. eine Begriffsdefinition oder eine Problemexplikation, dann werden Sie begründen, weshalb Sie diese (und keine andere) zugrunde legen wollen. Um das leisten zu können, werden Sie sich in diese fremden Gedanken selbst hineindenken, werden sie in ihrer inneren Begründetheit und Schlüssigkeit nachvollziehen müssen. Sie werden selbst von manchem überzeugt werden, von anderem nicht. So eignen Sie sich den Text in einer nicht äußerlichen Weise an, nämlich kritisch. Das Wort Kritik kommt vom altgriechischen krinein = unterscheiden. Bei einer kritischen Aneignung denken Sie sich zwar in die fremden Gedanken hinein, bleiben dabei aber unterschieden vom Autor der fremden Gedanken (bleiben Sie selbst); und Sie unterscheiden zwischen dem, was Sie überzeugt, weshalb es zu Ihrem eigenen Denken werden kann, und dem, was Sie nicht überzeugt und wozu Sie deshalb in Distanz bleiben. So entsteht aus der Aneignung etwas Neues: Ihr eigenes Denken verändert sich (also Sie entwickeln sich); und das Angeeignete verändert sich in der Rezeption durch Sie; es erfährt eine Transformation in eine Form, in der Sie es mit Überzeugung vertreten können.
In dieser Weise werden Sie sich überhaupt mit Quellen beschäftigen, wenn ernsthaft von wissenschaftlicher Auseinandersetzung die Rede sein soll: nach-denklich und kritisch. Weder beharren Sie nur auf Ihren eigenen Gedanken; noch geben Sie Ihre eigenen Gedanken zugunsten der fremden auf. Sie beziehen beides aufeinander und kommen so zu etwas Neuem, in dem sowohl das angeeignete Fremde als auch Ihr Eigenes in transformierter Gestalt aufgehoben sind.