Verlaufs- oder Ergebnisprotokoll?
Die Unterscheidung zwischen Verlaufs- und Ergebnisprotokoll zielt darauf, dass ein Protokoll entweder den gesamten Darstellungs-, Argumentations- und/oder Diskussionsverlauf wiedergibt oder sich darauf beschränkt, die hauptsächlichen Ergebnisse festzuhalten. Die Unterscheidung hört sich leichter an, als sie ist.
Da ja auch ein Verlaufsprotokoll keine wörtliche Stenografie all dessen sein soll, was im Seminar überhaupt gesagt wurde, verlangt es vom Protokollanten eine Entscheidung darüber, was als „wichtiger“ Beitrag zum Seminar anzusehen ist. Aber was ist „wichtig“ in einem Seminar?
- Ist eine unhaltbare Behauptung, die jedoch eine halbstündige heftige Diskussion provoziert hat, wichtig? Sie ist jedenfalls für den Verlauf der Seminardiskussion wichtig geworden. Also sollte sie wohl ins Protokoll aufgenommen werden.
- Oder ist ein kluger Gedanke, der nicht weiter verfolgt wurde, wichtig? Hier kommt es darauf an, ob Sie nur die Beiträge, die in irgendeiner Weise den Fortgang des Seminars bestimmt oder zu ihm beigetragen haben, protokollieren wollen, oder auch solche Beiträge, die eine mögliche andere Wende der Diskussion, einen anderen Argumentationspfad hätten einleiten können, die aber nicht weiter verfolgt wurden. Im ersten Falle entsteht ein geschlosseneres Bild von einem scheinbar recht folgerichtigen Seminarverlauf, ein gewissermaßen geschöntes, geglättetes Bild, während im zweiten Falle auch die verpassten, vernachlässigten, ignorierten oder ausgeklammerten Alternativen deutlich werden können.
- Was ist überhaupt ein „wichtiger“ Gedanke? Einer, den eine Seminarleiterin geäußert oder zu dem sie beifällig genickt hat; einer, den mehrere andere Seminarteilnehmer als „klug“ oder „interessant“ bezeichnet haben; einer, dem niemand etwas entgegengesetzt hat; oder einer, den Sie selbst als bedeutsam empfinden? Wenn die Seminarleiterin ihn für wichtig hielt, ist es sicher taktisch richtig, ihn ins Protokoll aufzunehmen. Wenn er Anklang bei anderen Seminarteilnehmern gefunden hat, hat er wohl auch zum Seminarverlauf beigetragen und sollte deshalb aufgenommen werden. Und wenn Sie selbst ihn für bedeutsam halten, dann sollten Sie sehen, dass Sie ihn so ins Protokoll aufnehmen, dass er dort auch als bedeutsam erscheint.
Ebenso schwierig wie die Frage, was zum Verlauf eines Seminars gehört, ist die Frage zu beantworten, was denn Ergebnisse in einem Seminar sind. Es ist nun mal – vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften – nicht so, dass Wissenschaft eindeutige Ergebnisse zeitigt. Es mag sein, dass eine Seminarleiterin die Veranstaltung so regiert, dass als Ergebnis immer das gilt, was sie als solches vorgesehen hat. Eine Seminardiskussion hätte also dann ein Ergebnis, wenn sie zu einer von der Leiterin für richtig gehaltenen Position gelangt. Es ist in solchen Fällen gelenkter Diskussion sicher angebracht, in einem Ergebnisprotokoll diese Stationen festzuhalten; die Seminarleiterin wird es dann so erwarten und damit zufrieden sein.
Bei einer weniger gelenkten und offeneren Diskussion wird es weitaus schwieriger sein, so etwas wie Ergebnisse festzuhalten. Die Diskussion mag hierhin und dorthin gehen; man einigt sich nicht; der Dozent hält sich heraus oder bekennt zwar seine Auffassung, will diese aber nicht verbindlich machen usw. Was Sie dann festhalten können, sind allenfalls gewisse Schwerpunkte der Diskussion und die dazu geäußerten, eventuell voneinander abweichenden oder einander widersprechenden Positionen.
Ob Verlaufs- oder Ergebnisprotokoll – das Protokollieren erfordert in jedem Falle von Ihnen hohe Konzentration. Sie müssen nicht nur ständig voll wach dabei sein (was Ihnen sonst in der betreffenden Veranstaltung vielleicht schwer fallen mag). Sie müssen auch immer ganz auf dem Laufenden sein, wie das gerade Behandelte im Zusammenhang steht mit dem Gesamtthema, und müssen beim Zuhören schon in gewissem Maße strukturieren. Sie können sich in einer ähnlichen Position sehen wie ein Gesprächsleiter, der ebenfalls ständig die Übersicht über Struktur und Zusammenhang einer Diskussion behalten muss.
Ganz übel ist natürlich, wenn Sie nicht mitbekommen, worum es geht, weil Sie es nicht verstehen. Daher: Wenn jemand sich für Sie unklar ausdrückt, die Sache aber wichtig zu sein scheint für das Protokoll, fragen Sie sofort zurück – als Protokollant haben Sie das Privileg, dazwischen zu fragen, ohne sich an eine Rednerliste halten zu müssen. Der Betreffende möge noch einmal langsam und deutlich so formulieren, dass Sie es für das Protokoll mitschreiben können. Fehlt Ihnen dazu der Mut oder wollen Sie nicht einen längeren Monolog des Seminarleiters oder eine gerade entbrannte Diskussion unterbrechen, dann sehen Sie zu, dass Sie nach der Sitzung herausbekommen, worum es ging (wenn es immer noch als sehr wichtig erscheint). Vielleicht erschließt es sich Ihnen ja im Nachhinein aus dem Gesamtverlauf der Sitzung. Sonst versuchen Sie doch, den- oder diejenigen, deren Beiträge Ihnen unverständlich blieben, anzusprechen: „Entschuldige(n Sie), ich habe das Protokoll zu schreiben und möchte sicher gehen, dass ich vorhin in der Sitzung Deinen (Ihren) Beitrag auch ganz richtig verstanden habe; es ging doch um ... (Stichwort). Kannst Du (können Sie) mir noch einmal ganz kurz Deine (Ihre) Position erläutern?“ Unter vier Augen fällt es dann wahrscheinlich auch leichter, weitere Verständnisfragen zu stellen.